Die Renaissance der schwarz-weißen Welt

Sie hängt schon wieder seit Stunden auf Facebook ab. Ihr Zeigefinger scrollt mechanisch im Intervall die endlose Zeitleiste herunter. Ab und zu bleibt sie hängen. Ein ehemaliger Mitschüler hat etwas geliket: Es ist das Pamphlet eines Dresdner AFD-Politikers zu den Anschlägen in Barcelona, Berlin und Nizza. Wer ist Schuld am Terror? Offne Grenzen und radikaler Islam, so die Kurzform.
Sie klickt sofort auf das Profil des Politikers. Eine Facebookseite, wie sie in den deutschstolzen Kreisen üblich ist. Bilder von Fahnen in den Farben schwarz, rot und gold, Bilder mit Anhängern und gleichgesinnten Politikern. Daneben hängt der rote Faden der Hetze: Einwanderung, Wahlmanipulation, linke Politk und das Ende der deutschen Kultur. „Willkommenspolitik ist tödlich“ ist so ein Satz der ihr hängenbleibt. Sie überlegt. Eigentlich kannte sie den Jungen ganz gut. Er war in ihrer Parallelklasse. Keine Leuchte unbedingt, aber auch nicht auf den Kopf gefallen. Wie konnte es dazu kommen, dass der da nun verwickelt ist. Und ist er das überhaupt? Ist ein Like eine 100% Zustimmung, oder eher ein Abnicken oder vielmehr ein „Ja, das ist ein Standpunkt den man auch vertreten kann“? Was bedeutet diese wortlose Zeichengebung?

Sie geht auf sein Profil. Hatte lange nichts von ihm gesehen. Ein paar Urlaubsbilder, irgendwelche Geburtstagsstatements, Bilder mit Freunden und zwischendrin immer wieder Meinungen. Hamburg vom G20-Gipfel wird da thematisiert, mit Bildern der Zerstörung und einem wütenden Text über linken Extremismus. So weit nicht schlimm. Sie scrollt weiter. Hier und da ein Like bei AFD-Angehörigen. Ein, zwei Kommentare zur Merkelpolitik. Irgendwann kommt ihr das doch sehr einseitig vor. Es geht oft um die Verurteilung von Gewalt, diese erfolgt allerdings nie pauschal, sondern ist immer an die Täter geknüpft: Links- und Islamextrimisten. Das ist die Gruppe die verurteilt wird. Ein zweites Thema ist der Schutz des Eigentums, der Schutz der Privilegien Westeuropas: Wohlstand, Wachstum, Wichtigtuerei. Sie spürt, wie sie etwas säuerlich wird bei diesem Anblick.

Auf einem Bild sieht er aus wie ein Gockel. So eine hochgeföhnte blonde Locke, dazu ein Fünftagebart. Ein Grinsen, das vermutlich charmant sein soll. Und der Körper in so einen hellblauen Anzug gesteckt, mit kleiner Fliege unter dem Hahnenhaften Dotterkinn. Sie merkt wie sie sich immer mehr positioniert zu dem. Eine Distanz tut sich auf. Ist es, weil sie seit Monaten viel Spiegelonline liest? Ist sie befangen von der dort ebenfalls tendenziösen Meinungsmache?

Sie will ihm schreiben. Ist schon auf dem Nachrichtenicon. Drückt drauf. „Hallo Markus…“ tippt sie. „ich habe gerade deine Seite überflogen und mir sind viele deiner politischen Likes und Kommentare aufgefallen“. Dann überlegt sie. Bisher ist es nur eine Beobachtungsbeschreibung. Jetzt muss der Umschwung kommen. „Ich wundere mich, warum du einem offensichtlich fremdenfeindlichen Beitrag einen Like gibst.“ Sie grübelt. Dann löscht sie alles wieder. Zu direkt erscheint es ihr nun. Und „wundern“ ist auch so eine blöde Formulierung, das ist so ein versteckter, elender Vorwurf und damit würde sie nichts erreichen. Und „offensichtlich“ war sowieso nichts in dieser Welt, das polarisierte nur noch mehr. Sie beginnt erneut: „Ich finde es nicht gut, dass du einen AFD-Politiker mit Likes unterstützt, der keine differenzierte Meinung formulieren kann, sondern nur die Angst der Menschen zu seinem Zweck ausnutzt“. Das fand sie schon deutlich besser, das mit der Angst war ja immer so der stärkste argumentative Punkt in solchen Diskussionen. Aber dann würde er mit >Realität< anfangen und das Angst nicht immer ein schlechtes Zeichen wäre, sondern ein Instinkt, der Leben retten konnte. Und was war eine "differenzierte" Meinung? Wieviele Quellen musste man gelesen und verwurschtelt haben um als differenziert zu gelten? Höchst verfänglich. Ihr fiel einmal wieder auf wie grausam die Sprache war. Sowieso würde das alles nichts bringen. Falls man irgendwann tatsächlich dahin kam eine konstruktive Diskussion zu führen, würde das passieren was dann irgendwann immer geschah. Die in die Enge getriebene Partei würde sich auf Definitionsschwierigkeiten stürzen, würde behaupten, dass man eigentlich das gleiche sagte und nur die Worte unterschiedlich seien. Manchmal kam es sogar soweit, dass das komplette Kommunikationssystem der Menschen in Frage gestellt wurde, dass den Menschen die Verständigungswilligkeit abgesprochen wurde. Sie brach dann komplett ab mit der Kontakaufnahme. Sie wusste, dass sie ihr Anliegen noch als Frage formulieren könnte, neutral, freundlich, aufgeschlossen. Sodass der andere sich nicht angegriffen fühlt gleich zu Beginn. Aber sie vermutete, dass sie dann nur eine zurechtgelegte Antwort bekommen würde. Eine Mixtur aus Meinung, Fakten und Spekulationen. So richtig aufdröseln wollte ja keiner mehr. Zu wenig selbstkritisch kamen sie alle daher. Auf allen Seiten. Meinungszombies. So nannte sie die mittlerweile. Dabei verband sie im Inneren wohl doch eine Sache. Sie wollten die Welt, die Gesellschaft, ihr Umfeld alle mitprägen. Sie wollten dabei sein und ihre Vorstellungen umsetzen. Es lagen Welten zwischen all diesen beteiligten Parteien. "Kompromiss" war das heilige Wort, dachte sie. Aber die Kompromissfähigkeit verlangte, dass man sich immer wieder verständigte, dass man miteinerander agierte und aufeinander zuging. Das wollte hier jedoch keiner mehr. Die Leute waren faul geworden. Sie wollten sich nicht mit anderen Ansichten auseinandersetzen. Es gab zuviele davon. Einen Überblick zu bekommen war überhaupt nicht mehr möglich. Ihre Köpfe waren so versteinert, dass sie annahmen, sie könnten damit wirklich durch Wände gehen. Was war das nur für eine schrecklich komplexe Welt, dachte sie. Was für ein vermaledeiter Scheiß in den sich die Menschheit da hineingefuhrwerkt hatte, mit ihrem Streben nach der freien Entfaltung. So viele Süppchen und so viele Rezepte dazu, die keiner kannte. Sie öffnete das Fenster. Dann griff sie den Laptop und warf ihn hinaus. Vorbei. Ruhe. Für einen Moment.

Die Stulle

Die Stulle lag brach auf der Fläche, ihre Seiten waren trocken, fraglich, ob überhaupt noch Leben in ihr war. Ich biss dennoch ab und es gefiel mir, längst vergangener Geschmack bohrte sich in meinen Gaumen, er war so schwach, dass ich lange schmecken musste, um ihn überhaupt zu erfassen. Erdbeermarmelade und Butter war es wohl gewesen, bevor der Schimmel einschlug. Auch schmeckte ich längst vergorene Körnersorten, die Stulle konnte wohlmöglich Alkohol enthalten. Ich kaute kräftig, der Würgreiz brachte mich mehrere Male aus dem Gleichgewicht, ich lehnte mich vorn über, aber hielt die Zähne fest zusammen.
Eine Metapher könnt es nun sein, oder eine wahre Geschichte aus dem Kühlschrank oder eben nicht aus dem Kühlschrank, vielleicht eine Stulle, die unbeachtet ihre Tage hinter der Heizung gezählt hatte. Eklig würde es wohl in jedem Fall sein, Vergangenheit, Vanitas, Verfall, all diese Motive könnten in der Stulle stecken, aber auch Hoffnung ist da. Oder nicht? Würde man sonst in eine verfaulte Stulle hineinbeißen, würde man verzweifelt den Gärprozess und den Pilzbefall außer Acht lassen nur um den Geschmack zu erahnen, würde man?
Das Alte.
Ich kann mir vorstellen, dass das Alte so sein kann. Abstoßend, aber verlockend durch seine Beständigkeit.
Wir reden hier nicht von einer Ekelhaftigkeit würd ich sagen, vielleicht eher von einer Idee.
Eine alte Idee. Eine überholte Idee, eine, die nicht mehr mithalten kann, mit der Schnelllebigkeit.
Romantik?
Muss Romantik langsam sein?
Eine Idee kann romantisch sein. Ideen sind meistens romantisch, zumindest die, die kaum zu erreichen sind.
Die romantische Fäulnis, eine Art Vortodsphase.
Die Ehe?
Reden wir davon? Ist das die alte Idee, die romantische, die treibt und ziehen soll bis hin zum Tod.
Ist die Ehe die romantische Fäulnis oder eine unromantische Faulheit?
Beständigkeit als Nährboden für Faulheit, Faulheit als der Beginn der Fäulnis, Beständigkeit das Ende der Romantik.
Ist Romantik nicht durch Angst vor Unbeständigkeit geschürt?
Angst vor dem Tod, Angst vor dem Zertrennen.
Fäulnis.

Die zweifelhafte Linse

Rot färbte sich der Kragen, als Achim in den Sonnenuntergang fuhr. Die Linse vorne in seinem Photoapparat hatte er neu schleifen lassen, sie war nun unförmig, sodass in den Bildern seltsame Farbspiele und Formen entstanden. Künstler zu sein war nicht einfach in diesen Tagen, man musste schon mit einer feinen Idee aufwarten, sonst würde man selbst von der Bäckersfrau hinten beim Carree bemitleidenswert angesehen werden, so wie ein Künstler seine Mitmenschen angesehen hätte, wenn er nicht so bescheiden gewesen wäre. Die Linse hatte ihm einigen Ruhm eingebracht, es war immer die gleiche. Erst hatte er mit feinem Sandpapier die Oberfläche sorgsam bearbeitet, dann hatte er verschiedene Folien aufgeklebt und nun war ihm endlich das Diamantschleifgerät zur Hand gekommen und in der letzten Nacht hatte er bis in den Morgen an der Linse geschliffen. Seine Hände waren rau und Gelb von den Zigarren. Er wusste nicht wohin er fuhr, es war nur klar, das, was auch immer er photografierte, der Erfolg kommen würde. Er würde sich sonnen darin, würde braungebrannt irgendwann gesättigt heraustreten und merken, dass nicht ein Photo ihm den Erfolg beschert hatte, sondern die Idee.

Am Rock deiner Mutter

Letzte Woche war es soweit. Tobias kam um Zwölf aus dem Haus deiner Mutter. Seine Hosen waren an den Knien zerschlissen und die Nachbarn sahen verwundert auf sein zerzaustes Haar. Tobias war weder der Mann deiner Mutter noch ihr neuer Freund, geschweigedenn ein Zuhälter, der sich ihren Körper in kapitalistischer Weise zu Nutze machte.

Vor ein paar Jahren war dein Erzeuger von uns gegangen. Er hatte im Lotto gewonnen und lebte nun irgendwo in Griechenland wo man ihn vergötterte. Ich weiß noch, wie du wütend den alten Fernseher auf dem Hof zertreten hast. Der Schweiß in deinem kindlichen Angesicht glänzte damals im Mondschein und vermischte sich mit deinen Tränen.

Als deine Mutter dann Tobias kennengelernt hatte warst du noch mit ihm zusammen gewesen. Ihr wart vielleicht drei Wochen ein Paar, als du ihn zum ersten mal mit nach Hause gebracht hattest. Er war ein Dealer gewesen, das Kind eines durchgeknallten Bullen, der in einer berauschten Nacht in einer Discothek drei Menschen erschlagen hatte. Deine Mutter muss für Tobias wie eine Mutter gewirkt haben und am Anfang beflügelte diese neue Geborgenheit die Liebe zwischen euch. Als du aber gemerkt hast, wie viel Zuneigung er für deine Mutter empfand hast du dich geekelt vor ihr. Bald darauf bist du ausgezogen und mittlerweile wohnst du wahrscheinlich irgendwo am Stadtrand, wo die Mieten noch zu bezahlen sind.

Tobias aber geht immer noch ein und aus bei deiner Mutter wie es ihm passt. Ihr habt nie darüber geredet was eigentlich vorgefallen war und auch sie, die dich immer sorgsam gepflegt hatte brachte bis zu diesem Tage kein Wort heraus. Die Würfel waren nun anders gefallen als du es dir erwünscht hattest. Deine lüsternde Mutter war in deinem Geiste zu etwas verkommen, dass du nicht mehr ertragen hast. Ob sie geweint hat, als sie erfuhr, dass du dich versucht hast umzubringen? Ich kann es nicht sagen.
Gestern hab ich dich an der Bushaltestelle gesehen, dich und deinen Neuen. Er muss ein Südländer sein oder sagt man das nicht mehr, jedenfalls wird er irgendwo aus dem Süden stammen nehme ich an. Seine gebräunte Haut war auffällig im Schare der käsigen Deutschen, zudem sah er deutlich jünger aus, weshalb ständig neugierige Blicke auf euch ruhten.

Du hast ihn damals kennengelernt als du im Krankenhaus gelegen hast. Er war irgendwoher aufgetaucht, kannte sogar deinen Namen, ein Retter im weißen Gewandt. Schon als er hereinkam hattest du gespürt, dass etwas besonderes passieren würde und nun, drei Monate später, wolltet ihr gemeinsam in sein Heimatland reisen um dort eventuell ein Haus zu kaufen und ein Leben zu Leben, wie du es dir hier erträumt hattest. Die Zeit aber hatte sich gewandelt, er wusste, dass er als Grieche verdammt war mit einer Deutschen, aber seine Entscheidung stand und mit ihr wollte er gemeinsam notfalls durch die Hölle gehen.

Als ihr eine Woche darauf im verträumten Küstenstädtchen eingefahren seid, konntest du dein Glück kaum fassen. Alles war so wunderschön, wie er es dir vorausgesagt hatte, wenn du in seinen Armen gelegen hattest und ihr im Park in die Wipfel der urdeutschen Eichen geschaut hattet. Selbst die Wolken waren wie von Meisterhand in atemberaubenden Formen gezeichnet und die hellgestichenen Häuser versprühten eine lockere Einfachheit von der du immer gehofft hattest, dass sie irgendwo für dich existieren konnte. Ihr fuhrt durch die engen Gassen und alles kam dir wohl so fantastisch vor, dass du glauben musstest, dass in dieser Welt kein Übel existieren konnte.

Als ihr aber ausgestiegen wart und dein Grieche dir seine Familie vorstellte, wurde deine naive Zuversicht mit einem Mal in winzig kleine Bruchstücke zerschmettert.

Erlebniskonnex I

Es ist der 21.Februar 2014. Linda Venato sitzt wie immer um diese Zeit in der Bibiliothek. Draußen ist es gerade dunkel geworden. Sie schreibt an ihrer Magisterarbeit und blättert in einem Buch über Psychologie. Ihr Thema: Verfolgungswahn. Eine Vibration erklingt und sie schaut auf ihr Telefon. SMS von unbekannter Nummer.

04.März 2014
Die Bibliothek ist mäßig besucht. Draußen perlt der Regen von den Scheiben. Plötzlich, es ist exakt 18Uhr 17, fährt ein kahlköpfiger Mann mit einem grünen Fahrrad durch die schmale Eingangstür. Der Mann bleibt neben der kleinen Balustrade stehen und erhebt seine Stimme. Das Gemurmel aus dem Umkleidekeller verstummt. „Hört ihr nicht wie das Leben um euch weint?“ brüllt er wie ein Wahnsinniger in die Halle. „Das Leben, mein Werk. Ihr werdet sehen.“ Dann jodelt er kurz in sehr eigentümlicher Art. Angstvoll blicken sich die jungen Leute hinter der Balustrade an. Plötzlich zieht er etwas aus seiner hinteren Hosentasche. Es ist ein Zettel. „Ich hab eine Hausaufgabe für euch.“ setzt er wieder an: „Wer hat den Mut sie anzunehmen. Wer sieht die Hände am Ende der Strippen?“. Dabei tanzt er wie eine Marionettenpuppe. In den unteren Reihen schauen alle verstört auf ihre langweiligen Hausarbeitsthemen. Im oberen Rang glotzt die ganze Meute, wie ein gieriger Schlund, dem Wahnsinn schmeckt. „Niemand? Traut sich keiner von euch? – Ihr Feiglinge! Denunzianten!“ brüllt er, schwingt sich auf sein Fahrrad und fährt hinaus.

Der Saal atmet auf. Die Szenerie sättigt sich und alle lassen sich beruhigt, aber mit Gesprächsstoff versorgt auf ihre plattdeutschen Ärsche fallen. Doch plötzlich ist noch ein andere dumpfer Schlag zu vernehmen. Ruckzuck steht die Meute wieder. Arme fliegen in die Richtung, mit ausgestrecktem Zeiger. ›Da, da. Da ist eine zusammengebrochen.‹ wollen sie sagen. ›Da schaut. Wie geil, was für ein Tag, zwei krasse Sachen. Studieren kann so spannend sein‹. Doch niemand spricht diese Gedanken aus. Totenbleich liegt sie drüben hinter den Tischen. Studenten im Halbkreis staunen über die Magie der Biologie und sie denken an Julia Engelmann. Zwei beugen sich über den keuchenden Leib. Niemand weiß einen Rat, selbst der 37 Jährige Medizinstudent im 23 Semester blickt nichtssagend an der Präleiche vorbei. ›Verdammt, wenn es mal jetzt nicht zu spät für sie ist. So ein junges Ding.‹ – Nur die Finger sprechen gestenlos zu Fäusten geballt in die Hosentaschen.

Die Verkrampfte Gestalt versucht sich aufzurichten. Ihre Züge mehr unlebendig als menschlich, in der Hand noch das Telefon. SMS von Unbekannt: „Nun komm ich dich holen Linda. Ich hab eine Hausaufgabe für dich. Komm setzt dich auf mein Fahrrad“.

Erlebniskonnex II

Mit röhrendem Hackgeräusch dreht sich das in dünnen Darm gepresste Fleischknäul durch die Wurstschneidemaschine in der von vielen Bewohnern favorisierten Fleischerei in der Greifswalder Innenstadt. Die Wurstthekenfrau schaut fast etwas mitleidig auf den kleinerwerdenden phallischen Gegenstand oder ist es der wütende Blick einer alt gewordenen Emanze?

Die Schlange steht wartend am gläsernen Zahlschalter, als ein hochgewachsener Mann hereintritt. Am feinen Gang und dem ordentlich, mit einer sorgsamen Bewegung, gekämmten Barthaar sieht man sofort, dass er der Herr Professor ist. Einige junge Menschen schauen auf, schwingen sich aus den tiefen Speisesesseln und verbeugen sich. Nur der schrullige DJ-Typ, den hier alle Z(appel D.)eus nennen blickt in sein mit goldenen Steinchen beschlagenes Smartphone. Nachricht von Jürgen: ›Heut Saufen und Champions Lauge‹, der Typ lacht und schreibt: ›Bring mir mal ne Laugenbrezel und ne Maß mit du Rechtschreibenazi‹ dann kratzt er sich am linken Ohr, da wo ein Ring durchs Läppchen gestochen ist.

Der Professor ist sofort rangekommen. Sein Graumeliertes Haar, von Schuppen befreit (24 Stunden lang), glänzt in der Abendsonne, die durch die Frontscheibe des Ladens fällt. „2 Bocka, bitte“ raunzt er freundlich und zieht seinen Hut wie zum Gruß. Zwei Mädchen von jungem Alter sehen verliebt auf das wohlgeformte Gesicht des Mitvierzigers. Sie wollen Karriere machen, aber auf die alte Art, mit weit geöffneten Beinen. ›Erstmal Abi, dann zu Papi‹ steht in schwarzer Schrift bei der einen in die Haut gemalt. Soll wohl eine Anspielung auf Scheidungskinder sein, deren Vater über jede Menge Geld verfügt, denkt der Herr Professor, der alles andere als auf den Kopf gefallen ist. Professur mit 22, 3 Kinder, 2 Mercedes und natürlich ein Haus am Gardasee beim Hoeneß ums Eck, da wo die Moneten durch fette Hände in Eichhörnchenlederportmonees fließen. „Aber der ist’n Guter“ hat dem Dekan immer wieder der Profscout versichert.

Der Profscout war hier in Greifswald ein von Sportarten adaptierter Prototyp eines Menschen, der mit wachem Auge und gesundem Menschenverstand und so unbestechlich wie ein italienischer Priester die Ohren nach guten Lehrkräften offen hielt. Der Professor war ihm auf seiner Suche früh aufgefallen.Zum einen aufgrund des zumindest auf dem Papier makellosen Lebenslaufs und zum anderen durch die vielen Präsentkörbe. „Wenn dir jemand einen Präsentkorb schickt, dann kannst du ihm doch keinen Korb geben“, hatte der Profscout immer wieder wie entschuldigend zu seiner Frau Anneliese gesagt. Irgendetwas in ihm war sich uneinig mit der eigenen Vorgehensweise.

Der Dj-Typ hingegen schaute schon eine ganze Weile an seinem Display vorbei auf die jungen Mädchen, die immer noch dasaßen, obwohl ihre Teller schon seit einiger Zeit leer waren. Wie lange schon sehnte er sich nach etwas Frischblut aus dem Greifswalder Jungbrunnen. Aber wie er auch grübelte wollte ihm nichts Gescheites einfallen und so beließ er es dabei, auf den nächsten Samstag zu warten wenn es wieder heißen würde: „The Last Girl takes the DJ“ was hier sowas wie das Pendant zu einem Kalkbrennerkonzert auf Mallorca darstellen sollte, nur korrekter und künstlerisch angehaucht, mit dem gewissen Flair.

Langsam lockerte sich die Anspannung, die der Professor mit seiner Anwesenheit hineingebracht hatte. Gespräche wurden lauter, das Schmatzen ätzender und auch die Fritteuse gluckerte wieder unaufhörlich wie eine Frisöse. Als der Graumelierte sein Essen entgegennahm war auffällig zu beobachten, dass die Hand der Kassiererin ihn länger als üblich berührte. Der Blickkontakt zwischen den Beiden ließ vielleicht sogar einen fiktiven körperlichen Akt erahnen, den die Beiden in einvernehmlichen Gedanken vollführten. Wenige Sekunden später, als sie sich aus ihrer innigen von niemand zu erkennbaren Umarmung gelöst hatten, blickte die Fleischerin vielsagend zur Wurstschneidemaschine und schien mit ihren Augenbrauen irgendetwas sagen zu wollen. Mit einem Mal zerbrach das interpretative Instrument in der Hand des Beobachters und war von da an unabdingbar zerstört.

Spitz, wie die Alte

Jerome streichelte sich über die kleine Narbe an seinem linken Zeigefinger. Er erinnerte sich genau, wie sie ihm beigefügt worden war, ein flüchtiger Schnitt mit einem Gemüsemesser. Seine Großmutter hatte nichts Böses gewollt, sie war einfach unachtsam gewesen auf ihre alten Tage. Jetzt war er auf dem Weg zu ihrer Beerdigung. Der Tod entsprach nicht der Natur, jedenfalls dann nicht, wenn man in der Sprache der Gerichtsmediziner sprach.

Frau Marianne Kelbett verlor am 02.Oktober 2017 das Bewusstsein. Durch ein lautes Geräusch aus dem Fernseher, nach dem Einsetzen des Hörgeräts, platzte eine Venole innerhalb des Gehörgangs. Das Knalltrauma hatte eine Schwindelattacke zur Folge. Die darauffolgende Ohnmacht lies Frau Kelbett an der Wand zusammenbrechen. Sie stürzte auf den scharfkantigen Brieföffner und verletzte sich dabei am Hals schwer, wobei die Halsschlagader geöffnet wurde. Wenige Minuten später war Frau Kelbett verblutet.
Er mochte den kalten Atem des Obduktionsberichts nicht. Es schien ihm, als wenn hier von irgendjemandem die Rede war, aber es war doch seine Großmutter. Er hatte sich schon oft vorgestellt was passieren würde, wenn sie allein zu Hause das Bewusstsein verlieren sollte. Seine Sinne waren auf scharfe Kanten ebenso fixiert gewesen, wie in dem Moment, als seine Tochter das Licht der Welt erblickte. Aber nun war es zu spät. Oma Marianne war gestorben. Seine Narbe juckte.
Wenn er zurückdachte, dann sah er sie. Aber das Bild war entstellt. Es entsprach nicht der wahren Vergangenheit. Immer sah er sie mit irgendeinem scharfkantigen Gegenstand. Wie sie sich beim Rasieren das halbe Bein abgeschält hatte. Wie sie dem Bäckersjungen eine Ohrfeige verpasst hatte, ohne dabei den Schlüssel aus der Hand zu legen. Wie sie bei der Wanderung damals am Holz vorbeigeschnitten hatte und ihr von da an der linke Daumen fehlte. Seine Großmutter stand irgendwie in Verbindung mit spitzen Metallen. Es gab unzählige Bilder auf denen man sie entweder mit einer Axt, einer Spitzhacke oder einem Rouladenpicker sehen konnte. Und sie lachte, als wenn es keinen Abend gäbe. Nun gab es keinen Abend mehr für sie. Nur diesen einen Noch.
Die Beerdigung war am Vormittag gewesen. Sie waren alle in die Kirche gegangen. Einige hatten gebetet, die Ungläubigen standen nur rum und warteten, dass es vorüber war. Der Pfarrer hatte eine kurze Ansprach gehalten, dann die Kinder und schließlich die Enkel. Er hatte etwas von Vorbildern gestammelt und von der Liebe und der Geborgenheit, die er nur bei ihr empfunden hatte. Über die tiefe Unverständnis, die ihn in den letzten Jahren in der Nähe seiner Großmutter begleitet hatte schwieg er. Aber die Narbe zeigte er und erzählte die Geschichte dazu. Als er wieder in die helle Welt trat konnte er sie plötzlich überall sehen. In den Zaunpfählen steckte sie, aber auch in den Haaren der Frauen. Er sah sie auch in den Scheren und Schirmen dieser Welt. In den Korkenziehern und Werkzeugkästen. Überall da war sie und mit ihr ihre Tollpatschigkeit.
Der Sarg war langsam heruntergefahren. Eine kleine Kapelle spielte Musik. Die Trauergemeinde nahm Sand und warf ihn hinunter. Er fand dies alles gewöhnlich und fast, wie er es aus dem Fernsehen kannte. Die letzten Worte, die dort noch gesagt wurden waren nicht besonders originell. Nur der Grabstein, in mattem weißen Marmor gehalten, strahlte ein Stück Individualität aus, aber vielleicht war der Spruch, den man unter die Lebensdaten gesetzt hatte auch nur aus einem der dafür geeigneten Internetforen. „Das Leben ist ein Drahtseilakt“ stand dort in schwarzen Lettern. Jerome dachte einen Moment darüber nach, dann erfasste ihn wieder der melancholische Schatten, der sich über all dem ausgebreitet hatte.
Abends saß er in der Kneipe abseits. Das Gelage war drüben im Gemeinschaftsraum. Sie betranken sich, weil sie es so gewollt hätte. Das sagten sie zumindest. Er wusste, dass es ihr egal gewesen wäre. Sie war keine Frau von übermäßiger Disziplin und Anstand. Aber emotional war sie schon gewesen, manchmal. Onkel Erwin kam herüber und wollte zur Toilette vorbeigehen. Dann sah er den jungen Mann und stoppte. „Was ist los Jerome?“. Jerome schwieg, was sollte er sagen. „Komm doch mit rüber und trink ein frisches Pils. Das bewirkt Wunder.“ Jerome stand auf und ging mit zur Bar. Onkel Erwin wuschelte ihm über den Kopf und setzte seinen Schlendrian zum Pissoir fort. Nun stand er da. Die Narbe juckte wieder und plötzlich tauchte ein Bild, wie ein Vision vor ihm auf. Er sah Großmutter Marianne, wie sollte es an diesem Tag anders sein. Sie lachte. Sie lachte und streckte beide Daumen in die Luft. Die linke Kuppe fehlte. Ein kleiner Quell Blut sprudelte heraus. Sie beachtete ihn nicht, aber er konnte seinen Blick davon nicht abwenden. Dann wendete sich die Alte zu einer Staffelei hin, die im Hintergrund auftauchte. Spitzbübisch rieb sie sich die Hände, das Blut besudelte ihre weiße Schürze. Dann schwang sie die linke Hand. Hoch – runter, links – rechts – Kurven und Kanten entstanden, das Blut zeichnete sich auf der Leinwand ab, ein grausames Bild und als sie fertig war erkannte er sich selbst. Sie hatte sein Gesicht abgezeichnet, mit ihrem Blut. Wieder hob sie den Daumen, zwinkerte und dann war sie verschwunden. Die Geräusche aus dem Hintergrund wurden wieder lauter, das Bier vor seiner Nase klarer. Er nahm einen großen Schluck und wendete sich um.

Onkel Erwin war zurück und er war guter Dinge. Er bestellte lauthals eine Runde Schnaps für die Herren und einen Pflaumenlikör für die Damen. Da war er ganz altmodisch. „Auf Marianne, die alte Schnippe“ brüllte er, „auf dass wir nun die DDR hinter uns lassen können.“ Jerome schaute sich um und sah zustimmende Gesichter. Was sollte das bedeuten? Die DDR. Sie waren doch im Westen. Er ging zu seinem Vater und fragte ihn. „Ach Jerome, eigentlich ist das nicht so wichtig. Oma Marianne ist tot. Da rührt nichts mehr. Lass es liegen.“ Er sprach zu ihm, wie ein Vater zu seinem Sohn, einem jungen Sohn, einem, der auf der Straße herumtollt und Ekelhaftigkeiten aus den Bürgersteigen aufhebt. Aber Jerome ließ nicht locker. Zerrte dem Vater am Arm und fragte noch einmal eindringlich. Der Vater drehte genervt die Augen nach oben, sodass Jerome für einen Moment nur zwei weiße Punkte anstarrten. „Also Jerome, Oma Marianne war nicht immer diese nette Frau, die du so in Erinnerung hast. Wenn du noch ein Kind wärst würde ich dir nichts sagen, aber da du erwachsen bist und es hören willst..“ Er seufzte, packte ihn am Arm und zog ihn mit in den Nebenraum. Augenblicklich war es stiller und er sah wie sein Vater eine Träne mit dem Handrücken fortwischte. Du weißt doch, dass unsere Familie eigentlich aus Brandenburg kommt. Und du weißt sicher auch noch, wie wir dort gelebt haben. Du warst zwar noch klein, aber vielleicht erinnerst du dich an den schlimmen Autounfall, den Opa Hagen hatte.“ Er drehte sich verlegen weg und sie schwiegen einen Moment. „Wir konnten euch damals nicht die Wahrheit sagen. Opa Hagen war gar nicht in diesen Autounfall verwickelt.“ Jerome spürte seinen Körper nicht mehr, er war längst in seinen Gedanken die Jahre zurückgegangen. Er erinnerte sich an den Tag, als er vom Kindergarten abgeholt worden war und seine Eltern ihm einen Kakao gemacht hatten und ihm gesagt hatten, dass sein Großvater nicht mehr zurückkehren würde. Mit großen Augen starrte er seinen Vater an. „Die Wahrheit ist etwas komplizierter. Du weißt ja, welchen Preis Verräter in der DDR zahlen mussten. Also… dein Großvater.. er hat versucht in den Westen zu kommen. Er wollte einen Tunnel graben.“ Jerome wurde schlagartig klar, dass seine Familie Teil der deutschen Geschichte war. Die Abstraktion, mit der er sonst immer diese Vergangenheit betrachtet hatte, wurde wie eine Haube davongetragen und er sah nun alles aus einer anderen, vertrauteren Perspektive.
Aber sein Vater schien mit seinen Ausführungen noch nicht fertig zu sein, denn wieder wippte er unruhig hin und her und seine Hand schien zu zittern. „Die Sache ist aber noch etwas komplexer. Man hatte meine Mutter, also Marianne schon Jahre zuvor dafür angeworben Notizen und Anmerkungen über Bekannte und Anwohner zu verfassen. Ich weiß nicht warum sie das getan hat und es ist uns allen auch erst viel später klar geworden, aber sie war ein Spitzel der Stasi.“ Ein Spitzel jagte es Jerome durch den Kopf. Ein Spitzel, eine Lauscherin und das sagt er einfach so daher? Warum hat sie das getan und warum erfuhr er erst jetzt davon? „Wir hätten euch früher schon davon erzählen sollen, aber der Zeitpunkt war nie der richtige und Marianne..“, er schluckte deutlich hörbar „war in unseren Augen genug bestraft, dass sie Opa in eines der Foltergefängnisse gebracht hatte.“ – „Foltergefängnis? Was ist mit ihm passiert?“ fuhr Jerome herein. Sein Vater blickte ihn an und sprach sachte: „Er hat sich das Leben genommen. Mit einem Drahtseil in einer Zelle in Hohenschönhausen.“

Sie nannten ihn Jimmy

Sie nannten ihn Jimmy, „the ugly one“, der mit dem vernarbten Gesicht. Anke kannte ihn von früher, war sogar mal in ihn verliebt gewesen, ›voll die hässliche sau‹ hatte man ihr hinterher gerufen und nach ein paar Jahren, die sie einsam und abgeschottet hauptsächlich im Internet gelebt hatten, da fanden sie eines Abends zusammen. Jimmy hatte sich prompt an diesen Abend dazu entschieden doch einmal aus zu gehen und so fand er sich schließlich im kahlen Speiseraum der Dönerbude bei sich unten im Haus wieder. Gerade noch, kurz bevor er sich so gut als möglich angekleidet hatte, war sein Interesse bei einigen fesselnden Beiträgen der Internetgesellschaft hängen geblieben. Darunter befanden sich der berühmte, wie von meisterhaft geschriebene Bericht von Kurt Jacksony, der ausführlich berichtet hatte, wie sie ihm im Knast unter die Schürze gelinst hatten, außerdem ein Beitrag über Franck Riberys Ausflug in die Welt der bezahlten Liebe und schlussendlich erblickte er die sanften Zeilen eines gewissen Max Devantier, der ihm vorher nie aufgefallen war.

Nun saß er, mit Hemd und ordentlicher Hose, es war seine beste, neben dem fetttriefenden Schweinsspieß, der sich knusprig braun dem Schwarzen näherte. Wie mechanisch schwang die Hand des türkischen Mannes auf und ab und schnitt in immer der selben Fleischdicke wunderbare Scheiben ab, die herunterfielen und sich auf einem Berg sammelten. „Mit alles?“
Jimmy schreckte auf.: „Ja klar, man“ er versuchte krampfhaft normal zu sprechen, „hauen sie auch dick scharfe Soße drauf Meister“. Der Mann, vom Namenschild als Emre zu erkennen, schaute ihn kurz entgeistert an, lachte dann kurz auf und rief etwas, in orientalischer Sprache in den Hinterraum. Schallendes Gelächter erklang und Jimmy, dessen Soziales Einfühlungsvermögen noch nicht so weit geschädigt war, erkannte, dass er sich mal wieder richtig auffällig benommen hatte. Er verhielt sich im Weiteren ruhig und nahm den Döner sachlich entgegen. Wie er so am lieblos, mit hellblauber Plastedecke überzogenen Tisch saß, bemerkte er in den Augenwinkeln, dass eine Frau den Laden betrat. Entschlossen blickte er auf. Sie war es – Anke, ›die hässliche Sau‹. Es klang ihm immernoch in den Ohren, das Gezeter vom Schulhof, die Wurst und Käsestullen, die sie nach ihr geworfen hatten. Ihre von Pickeln überzogene krumme Nase bohrte sich in seine Gehirnwindungen und öffnete Türen darin, die er gehofft hatte für immer verschlossen zu haben. Immer neue Erinnerungsfetzen tauchten auf, setzten sich wie von Geisterhand zusammen und ergaben schlussendlich ein grausames Bild und das von grässlichem Lachen begleitete ›the ugly one, the ugly one, his body like a penisbone‹ drang ihm wieder ins Gedächtnis. „Nein, nein, fuck,“ rief er aus. Der Dönermann lachte wieder. Anke aber schaute ihn nun plötzlich an und auch sie erkannte ihn sofort wieder. „Jimmy“ sprach sie verdutzt, „du lebst!?“

Jimmy rang mit sich, das war deutlich zu sehen: „Wie ich lebe? Klar, was soll ich sonst machen?“ Anke kam auf ihn zu. Tänzelnden Schrittes wich er immer weiter zurück. Stand nun ganz nah bei dem immerfort drehenden Fleischgewultst, die Hitze drückte ihm kleine Schweißperlen aus den Poren. „Du brauchst doch keine Angst vor mir haben Jim. Ich meinte das nur, weil ja auch du Selbstmordgedanken hattest. – Das habe ich zumindest gehört.“ Jimmy schluckte: „Wer erzählt denn sowas. Mir geht es gut. Ich habe eine Job, eine Wohnung und ich kann mir einen anständigen Döner leisten.“ Anke lächelte wieder. Er sah ihr tief in die Augen, vernahm auch die runzlige Haut, das viel zu fett aufgestrichene Makeup, den Spliss in ihren Haaren, die ganze Hässlichkeit, die sie so darstellte, aber er empfand es nicht als Last. Anke bestellte derweil eine Portion Pommes mit Süß-Saurer Soße, die der Mann aus einer gammeligen Plastikflasche presste, wie er es wohl schon tausende Male vorher getan hatte. „Zwei-Fünfzig Bitte.“ Sie reichte ihm einen Hunderteuroschein. Wieder schaute der Mann kurz entgeistert, rief etwas nach hinten und zahlte zurück. „Wollen wir uns draußen auf eine Bank setzen?“ nahm sie das Gespräch mit Jimmy wieder auf, „es ist eine laue Sommernacht, sodass wir den Kitsch auch einmal extrovertiert ausleben können.“ Jimmy nahm seine Portion und folgte ihr. Wie bewunderte er ihre gefestigte Art. Irgendwie musste sie an Selbstvertrauen gelangt sein, dachte er – nur wie?
Draußen war es tatsächlich recht warm, zumindest für einen Mai, der sich ansonsten nicht mit wärmendem Ruhm bekleckert hatte. Anke aß genüsslich ihre frittierten Kartoffelstangen und führte dabei einen kleinen Monolog. Das passte gut, denn Pommes machten sich immer hervorragend, wenn man nebenbei sprechen wollte. Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig im Mund, schmackhaft, aber nicht so, dass man dabei den Inhalt des Gespräches vergessen konnte. Jimmy hingegen knabberte noch immer am kaltgewordenen Schweinefett. Dabei lauschte er der lieblichen Stimme seiner Anke und Ja – Ja, er dachte nun schon an seine Anke, sie war ihm so vertraut geworden. Innerhalb von Minuten war er um Jahre zurückgekehrt und mit ihr fühlte er wieder die Hoffnung, die sein junges Leben noch bot.
„Wie hast du es geschafft so viel Selbstvertrauen anzuhäufen,“ fragte er sie direkt: „Ich meine dir ging es doch auch verdammt dreckig damals oder nicht? Warum bist du nicht wie ich geworden?“
Anke kaute wieder, nahm nun gefräßig mehrere Pommes mit einmal in den Mund: „Ich hab einen von denen umgenietet.“ Jimmy’s Atem stockte. „Wie umgenietet?“
– „Na ich hab den abgeknallt. Direktes Blei in die Fresse.“
„Du hast jemand umgebracht?“
– „Ja klar. Den Tom Bronko oder wie der hieß. – Ich hab den vor ein paar Jahren wiedermal zufällig getroffen bei einer Fete in meinem Heimatdörfchen. Da hat der mich dermaßen blöde angemacht, dass ichs durchgezogen hab.“
„Aber warum bist du dann auf freiem Fuß?“
– Anke lachte: „Ich bin vielleicht potthässlich, aber blöde kannst du mich nicht nennen. Hab gewartet, bis er richtig voll war. Immer schön einen Holundersekt nach dem anderen eingeschenkt. Dann hab ich ihn unter einem Vorwand zum Schlafsaal der jungen Mädchen geführt.“
Jimmy merkte wie ihm der Atem stockte. Das Blut gefror in seinen Adern.
– „Ich wusste schon immer, dass der eine perverse Sau ist. Also bin ich kurz weggeschlichen und habe gewartet bis eine von den Mädchen beginnen würde zu schreien. Das passierte auch kurze Zeit später. Mit schneller Bewegung mache ich das Licht an und sah, wie er bei einer Halbnackten am Bett stand. Plötzlich drehte er sich um. Ich drückte den Abzughebel des alten Familiengewehrs durch und er flog nach hinten. ›Ach die Hässliche‹ röchelte er. Aus seinem zerschmetternden klaffenden Arm suppte Blut. Ich schickte die Mädchen um jemanden zu holen. Dann rammte ich mir ein Küchenmesser in den Oberschenkel.“
„Was du dir selbst? Ist das nicht gefährlich?“ fragte Jimmy schon ahnend worauf es hinauslief.
– „Gefährlich nicht, wenn man sauber an den Arterien vorbeisticht, – dafür schmerzhaft. Jedenfalls drückte ich ihm das Messer dann in die Hand und rief um Hilfe. Bevor er wusste wie ihm geschah schoss ich ein weiteres Mal und traf ihn diesmal in den Bauch. Als die anderen vom Fest rüberkamen lag ich in einer Ecke und hielt mir mit einem Kissenbezug die Wunde zu. Natürlich war alles voller Blut. Tom Bronko hat zu diesem Zeitpunkt nicht mehr geatmet, aber scheinbar hatte er mir eine letzte Ehre erwiesen, denn das Messer hielt er krampfhaft in seine Faust geballt.“
„Und was passierte dann?“ fragte Jimmy nun ganz aufgedreht: „Was hat die Polizei gesagt?“
– „Ich erzählte ihnen, wie ich ihn bei den Mädchen erwischt hatte und dass ich ihm in den Arm geschossen habe, als er nicht aufhörte sie zu begrapschen. Die kleine Eva, die zu diesem Zeitpunkt als einzige wach war hat meine Geschichte bestätigt. Den zweiten Schuss rechtfertigte ich mit Notwehr, weil der Bronko mit einem Messer auf mich zugestürzt kam.“
„Das heißt du bist einfach so davorngekommen? Ohne alles, keine Anzeige, keine Untersuchungshaft oder was man so kennt?“
– „Nicht ganz, versteht sich. Natürlich wurde alles gründlich untersucht, aber der Fakt, dass Bronko schon früher in solcher Art Tat aufgefallen ist spielte mir in die Karten. Ich weiß noch genau, wie er mich kurz vor seinem Tot angesehen hat. Es schien als wenn er für einen kurzen Moment seine Dummheit abgelegt hatte, denn er säuselte etwas wie ›du ziehst das voll durch was?‹. Dann hat er ein letztes ekelhaftes verklingendes Lachen von sich gegeben und das wars dann.“
„Du bist eine kaltblütige Mörderin,“ stellte Jimmy fest. In seinem Kopf drehten sich allerlei Gedanken und Fragen und das ganze schien so absurd zu sein, dass er es kaum glauben konnte. Gleichzeitig empfand er die dunkle Heldenhaftigkeit die Anke ausstrahlte als wahnsinnig sexy und anturnend. Wie konnte jemand so gerissen sein? Fragte er sich wiederholt, lächelte dabei und sah sie an. Sie wusste wohl was in ihm vorging, denn während der wie eine Ewigkeit andauernden 5 Minuten dieses Augenblicks sagte sie kein Wort und schaute nur freundlich zurück.
„Ich kann es immer noch nicht glauben Anke, das ist ja krass. Fühlst du dich gar nicht schuldig damit?“
– „Ach Jimmy, Schuld ist doch von tiefer Irrelevanz, wenn etwas getan werden muss. Natürlich mache ich mir Vorwürfe, keine Frage. Aber unter dem Strich versuche ich das Gute zu sehen. Denn auch wenn Tom Bronko anders aussah, so war er ein Schwein. Und Schweine werden auf dieser Erde nun mal geschlachtet.“
Wieder saß Jimmy kurze Zeit einfach so da. Dann plötzlich nahm er Ankes Hand und küsste sie. Beide sahen sich an und mussten laut lachen. Sie waren hässlich. Anke eine Mörderin, aber sie hatten eine Chance. Jimmy wusste das. Vergnügt und wohl wissend, dass sie sich nun endlich dem romantischen Kitsch hingeben konnten liefen die beiden durch die Nacht hinein in eine gemeinsame Zukunft.

Jahre später schlägt Jimmy eines Morgens die Zeitung auf und liest im Lokalteil etwas über einen Kinderschänder. ›Tim B. schlug wieder zu‹ lautete die Überschrift und Jimmy las interessiert weiter. Aber erst als der Geburtsort des Täters genannt wurde, begann er stutzig zu werden. Wie im Rausch las er die folgenden Zeilen: ›Der Kinderschänder wurde gestern vom Landgericht Brandenburg zu einer Haftstrafe von 15 Jahren verurteilt. Der Grund für die hohe Strafe sei der lange Vorstrafenregister des Angeklagten so der Richter‹ Jimmy holte tief Luft und lehnte sich zurück, dann schmunzelte er und blickte an die Decke.

Alternative Enden:
1.) Acht Jahre später. Anke und Jimmy wollen heiraten. Alles ist bereit. Die schicke Kleidung steigert die Attraktivität der beiden für Außenstehende wenig. Das Schönste an diesem Abend sind die Trauzeugen. Am Abend zuvor belauscht Jimmy durch Zufall ein Gespräch zwischen seiner zukünftigen Frau und deren Freundinnen, als er an der Festhalle vorbeigeht. Eine Blonde mit prallem Busen hat gerade die allseits typische Frage nach der Art des Kennenlernens gestellt und nun antwortet Anke: „Also wir kennen uns ja schon seit der Oberstufe, aber so richtig gefunkt hat es dann erst 2012. Ich kam nichtsahnend in ein Restaurant und plötzlich sah ich ihn dort sitzen. Wir haben uns nett unterhalten. Ich hab mir eine witzige Geschichte ausgedacht und da ist er voll drauf abgefahren.“ – „Was für eine Geschichte?“ fragt die Blonde wieder. – „Na du weißt schon, eine mit Action eben, worauf Männer so abfahren, Knallharte Bräute, Blut, Heldentum, das Ganze Pipapo. Auf jeden Fall hat er mir das ganze auch fast nicht geglaubt, aber ich denke das war bei uns der Liebestropfen auf den heißen Stein oder wie man so sagt.“

2.) Die Wochen strichen ins Land und Anke strich sie am Kalender ab. Sechs Jahre war sie nun mit Jimmy zusammen und in all den Jahren hatte sie ihm nie gesagt, dass die Geschichte, bei der er sich in sie verliebt hatte erfunden war. Ihr war schnell klar geworden, und das vor allem Aufgrund ihrer Abscheulichkeit, dass sie im Leben etwas anderes Brauchte, als das Konventionelle. Wenn sie einen Mann verzücken wollte, dann ging das nicht durch Äußerlichkeit oder liebliche Reize. Ihr Körper war zu abgewrackt, als dass sich damit noch etwas anstellen ließe, das Gesicht zu vernarbt um darauf die Aufmerksamkeit des Gegenüber zu lenken. Was blieb war die Härte, das Moralische und vielleicht auch Böse und eben da hatte sie einen Stich gemacht. Nachträglich tat es ihr aber immer wieder weh, wenn Jimmy sie zärtlich ›Mörderin‹ oder ›Vollstreckerin‹ nannte, wenn sie es im Bett trieben oder er ihr mit einem lieblichen Kuss auf die Wange ein ›schlaf gut, du Killerpüppchen‹ zur Nacht ins Ohr hauchte. Sie ertrug es nur mit Mühe, die Lüge, die das Fundament ihrer Beziehung war, aufrecht zu erhalten. Jeden Tag schwor sie sich es ihm heute zu sagen, aber jeden Tag zerbrach dieser Plan an der Angst ihr Geheimnisvolles und Verrücktes Abbild zu verlieren.
3.) Sieben Jahre Später. Die Polizei wird zu einem Haus im nördlichen Berliner Speckgürtel gerufen. Als sie die Wohnung öffnen finden sie zwei schwer verletzte Personen vor. Später wird sich herausstellen, dass es sich dabei um Anke und Jimmy Walker handelte. Beide erliegen noch in der selben Nacht ihren Verletzungen. Ein Sanitäter schildert später, dass besagte Anke Walker noch etwas gesagt haben soll. Der Sanitäter spricht von einem schwer verständlichen Satz, der wohl etwas wie: ›Hätte ich damals bloß abgedrückt‹ gelautet haben könnte. Was dies alles zu bedeuten hat und wer die beiden Opfer so brutal ermordete ist aber weiter unbekannt.

Jemand wie du

Wie in jeder Pause sitzt Annemarie auf dem Schulhof und raucht eine Kippe. Der Stummel wippt nervös in ihrer linken Hand. Während sie sich heiter über das letzte Wochenende unterhält, denkt sie an Ullrich. Ullrich ist ein Junge aus ihrem Spanischunterricht. Annemarie hat Ullrich gern. Sie denkt manchmal sogar daran ihn zu küssen. Natürlich nur im Traum. Sie hat nämlich von Tobias gehört, dass der Ullrich wohl gerne den Jens küssen würde. Aber sie hat auch bemerkt, dass die Erzieher da irgendwie dagegen sind. Dann hat sie ihre Eltern gefragt warum ein Junge keinen anderen Jungen küssen kann. Und Mama ist ganz rot geworden und wusste keine Antwort. Dann gab es Pizza mit Käserand.
Jemand klappt das Kinderbuch zu und schüttelt den Kopf. Ein Mädchen, das einen Jungen küssen will und raucht? Ein Junge der einen Jungen küssen will und die Eltern wissen nichtmal warum das falsch ist? Und dann dieser amerikanischer Fettmacher Käserandpizza? Das soll ein Kinderbuch sein? Wo sind wir nur gelandet? Es ist Montag. Die Person schaut auf ihre Uhr, billiges Model, aber teurer Look. Das denkt sie zumindest. „Heut Abend ist wieder Treffen am Markt“ wird die Person an die heutige Friedenskundgebung per SMS erinnert. Es geht um den Frieden, gegen die Atomwaffen der Amis und den Terror des IS, gegen Gender Mainstreaming und Flüchtlingsheime. Wo Mädchen in Kinderbüchern rauchen, wird aber kein Frieden sein. Jemand ist wieder auf die Straße getreten. Der Buchladen hat wiedermal bestätigt, was längst offensichtlich war: Die Manipulationsversuche der Oberschicht am richtigen Weltbild des Volkes. Die Person wendet sich ab und nimmt sich einen Flyer am AFD-Stand neben der Fischbude. „Die Faust des Volkes“ steht als großer Slogan in arischen Lettern.
Dann geht Jemand in einen Lotto-Toto Laden und kauft sich einen Monatsschein. Es sind die gleichen Zahlen wie immer. Einmal 30 Mark gewonnen, aber das war noch beim Tele Lotto, da war die Welt noch in Ordnung. Ausbeutung durch den Wessi, das wäre auch so ein Thema findet die Person. Müsste man mal die Stimme erheben. Irgendwas würde sich recherchieren lassen. Gute Quellen waren massenweise vom Kopp-Verlag aufbereitet worden, man musste eigentlich nur die Augen offen halten. Jetzt ein bisschen Kautabak zwischen die Backenzähne. Ahhhh. Nikotin! Heut Abend wird wieder gebrüllt. Hansa braucht meine Stimme nicht mehr. Da kann ich montags heiser werden.
Katja schließt den Tab in ihrem Browser. „Was für eine stereotypische Zeichnung eines Pegida-Anhängers“ sagt sie in den Raum. Es grummelt zurück. Lukas sitzt am Wohnzimmertisch und schaut eine Dokumentation auf Arte. Dann ringt er sich ein „Das gefährliche ist ja eher, dass die Penner aus jeder Schicht der Bevölkerung kommen. Was du da liest, ist mal wieder der auf die Spitze getriebene Unsinn der Like-Geilen Fameseiten.“ Katja schaut zu ihm rüber. „Ist doch einfacher. Die werfen uns in einen Topf und wir die. Stinken tun die doch auf jeden Fall.“ Lukas nickt nur und schaut weiter. Eine Viertelstunde wird geschwiegen. „Ich hab mir jetzt wieder 15 Meter Kommentare durchgelesen. Kann mir echt nicht erklären wie man so einen Müll verzapfen kann. Das macht mir wirklich Sorgen,“ setzt sie wieder an. Lukas schaltet den Fernseher ab und geht zu ihr an den Schreibtisch. „Die eigentliche Frage ist doch, was wir wirklich dagegen tun können. Viele wichtige Menschen haben jetzt ihre Stimme erhoben, aber dennoch ebbt die Flut an Shitstormen nicht ab. Das Problem liegt ja irgendwo in der Entwicklung dieser Menschen. Irgendwie müssen die doch so werden, dass all diese Verschwörungstheorien auf fruchtbaren Boden stoßen. Man müsste an Einzelfällen untersuchen, wie es möglich ist eine dermaßen dumme Meinung zu erlangen, beziehungsweise zu übernehmen. Das wird irgendwo in deren Kindheit liegen, in der Erziehung oder im Umfeld oder an Schicksalsschlägen und Benachteiligungen. Wir als Land müssten im Idealfall dahin kommen, dass sich niemand mehr unbewusst in die Lage versetzt sieht, solche kranken Ansichten annehmen zu müssen. Was uns zu der Grundfrage kommen lässt. Kann man es verhindern, dass es dumme Menschen gibt? Und weitergedacht. Kann man verhindern dass es a) dumme Menschen gibt, die dann b) in die falschen Kreise abrutschen oder c) von Ungerechtigkeit betroffen sind?“ Eine Pause kehrt ein, Lukas und Annemarie schauen nachdenklich zu Boden.
Dann ist das Stück zu Ende, der Saal steht geschlossen und applaudiert. Theaterkritiker Tobias Fritsch macht sich ein paar letzte Notizen zum Gesehenen. Dann fährt er ins Büro, setzt sich an seinen Schreibtisch und tippt: „Nun versucht auch das Theater Profit aus der Spaltung der Gesellschaft zu ziehen. Während dies früher schon in Person von Bertold Brecht und Heinrich Marschner in Bezug auf den Kapitalismus gelang, widmet sich das neue Stück im Theater am Ryk „Jemand wie du“ den aktuellen Kontroversen zur Flüchtlingskrise, zur Ungerechtigkeit und zum bevorstehenden Terror. In sieben ineinander verflochtenen Szenen wird der Stellungskrieg der beiden Seiten in seinen unterschiedlichen Dimensionen beleuchtet. Die problematische Stereotypisierung der Oppositionen wird dabei immer wieder in überspitzender Form zur Geltung gebracht, sodass auch dem bürgerlichen Publikum ein Spiegel vorgehalten wird. Ein Spiegel allerdings, der nicht unbedingt der sauberste ist.
Während in fast ermüdender Weise die altbekannten Argumente zur Personifizierung des Bösen gebraucht werden, ist der Inszenierung anzumerken, dass versucht wird möglichst nicht in die Debatte integriert zu werden, um eine neutrale Sichtweise beizubehalten. In der fulminanten Schlussszene werden die zwar bekannten, jedoch wichtigen Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung sich Autorin Christiane Flussfrau jedoch nicht zutraut. Die Zuschauer verlassen mit einem mulmigen Gefühl den Saal und es werden nicht wenige sein, die sich Gedanken darüber machen, ob nicht eine Willkommenskultur für ehemals Verirrte angebrachter wäre, als eine kategorische Ausschließung aus dem Kreis des Guten. Das Stück kann bis auf einen Punkt als absolut wertvoll bezeichnet werden. Es ist eine Frage, die im Stück vernachlässigt wurde: Können Menschen lernen und in Zukunft mehr Ungerechtigkeit verhindern, auch wenn sich dadurch ein Vorteil für sie persönlich verflüchtigen würde? Nun befindet man sich wieder in Mitten der Kapitalismuskritik, die aber im Angesicht der aktuellen Probleme nicht außer Acht gelassen werden kann. Gehen Sie ins Theater und schauen Sie das Stück. Machen Sie sich ihre Gedanken“.

Die heiligen drei Königinnen

Es war unangenehm früh, als ich heut morgen über den graugepflasterten Parkplatz des Supermarkts ging. Vor der Schiebetür begegnete ich drei rundlichen Frauen in den Wechseljahren, deren Haare, dem örtlichen Modetrend folgend, gefärbt waren und rundherum kurz. Wie zum Gruß ans Großvaterland standen sie im Kreis und ihre blond, rot und schwarzen Stoppeln wehten stolz im Wind wie eine deutsche Flagge. Was niemand der Außenstehenden wusste war, dass eben jene Frauen in schändlicher Polygamie und in Partnerschaft mit nur einem Mann lebten. Sein Name war Judas. Judas Bergmann, ein Stamm von einem Baum von einem Mann.
Judas Bergmann lebte nicht weit von hier im Osten der Stadt: Schönwalde II, ein Ghetto so lobsam vorbildlich, dass es jedem Film als lohnende Kulisse dienen konnte. Vor einigen Jahren war über die arterielle Blutversorgung seines linken Beins eine Große Dürre gekommen und in einer brutalen Operation musste es unglücklicher Weise abgeschnitten werden. Seit diesem Tag hatte er sich geschworen das Haus, in das er auf Krücken zurückgekehrt war, nicht mehr zu verlassen.
Chantal Caspar, Melanie Melchior und Britney Balthasar, wie die drei wunderschönen Exemplare weiblichen Lebens getauft worden waren, traten nun in den Laden. Ohne Eifersucht achteten sie einander, wie es sonst nur ein guter Mormone hätte tun können. In ihrem tiefsten Inneren aber träumte jede von ihnen, irgendwann einmal Judas zweites Standbein zu werden und ihm so zu dienen, das kein drittes oder viertes benötigt wurde.
Judas Bergmann saß daheim in seiner kleinen Dreizimmerwohnung. Der Fernseher zeigte ein Programm aus dem Guten-Morgen-TV, aber gute Laune hatte er nicht. Gerade gestern hatte sich sein Hausarzt wieder zu ihm getraut und ihm eine schlimme Botschaft überbringen müssen. Das Rechte Bein, mittlerweile Judas ein und alles, drohte es dem linken Bruder gleichzutun. Die Blutversorgung ließ auch dort langsam nach, die bleicher werdenden Muskelstrukturen verrieten nichts Gutes. Das Einzige was ihn noch retten konnte war eine alte alternative Heilpraxis, über die Judas im Internet gelesen hatte. Dafür benötigte er allerdings drei Rohstoffe, deren Seltenheit bekannt war. Wie es der liebe Gott aber wollte, waren gerade diese vermeintlichen Heilsbringer im Angebot und lagen seit 7 Uhr früh in einem der eisernen Ramschkästen bereit, sich dem Ansturm der Konsumenten entgegenzuwerfen. Also hatte er seine „heiligen drei Königinnen“, wie er sie nannte, losgeschickt ihm eben jenes Angebot zu sichern.
Wie wild ruderte Chantal Caspar mittlerweile mit ihren dicken Armen durch den Laden. „Das muss doch irgendwo sein“, ließ sie verlauten und winkte die Anderen zu sich. „Du schaust da hinten“, sagte sie zu Britney und an Melanie gewannt: „Du durchsuchst das vordere Drittel“. Wie irre begannen die Drei wie lauernde Falken durch die Halle zu kreisen.

Die Gürtelschnallen schrammten dabei immer wieder die eisernen Käfige, in denen die Produkte gefangen waren. Ein Höllenlärm entstand, der durch das regelmäßige Knochenschaben der Rentnerbein-Prothesen untermalt war, insgesamt eine Geräuschkulisse, die das Arbeiten der Kassierer um mindestens weitere 20% zur Hölle machte.
Chantal hatte gleich zu Beginn die Kiste mit den Stoffen gefunden, wollte aber in einem Rausch von Egoismus zunächst eine Ablenkungsaktion starten, um dann klammheimlich als Heldin zu ihrem Judas zurückzukehren.
Sie schaute sich nun um. Melanie arbeitete sich gerade durch die vordere Getränkeabteilung. Die blonde Britney hatte sich auf eine Tiefkühltruhe gestellt und versuchte von dort aus fündig zu werden. Plötzlich sprintete Chantal los. Sie griff behände zu, einmal Gold, einmal Myrre, einmal Weihrauch. Klemmte sich Alles unter ihren beleibten Arm, so dass es fast komplett verdeckt war und eilte zur Kasse. Wie in einer Bewegung zog sie mit der Linken Hand ihr Portmonee aus der Tasche und griff gleichzeitig nach den Waren und zog sie aus ihrer Achselhöhle. Der Verkäufer rümpfte die Nase und kassierte in Rekordzeit. Hinten hatte Chantal schnell geschaltet. Mit stampfenden Schritt donnerte sie auf die Kasse zu, eine Ältere Dame konnte nicht mehr ausweichen und wurde ins Spirituosenregal geschleudert, wo sie später ertrank. Auch Melanie war nun klar geworden was vor sich ging. Sie nahm ihren Mut zusammen und setzte zum Sprung über das Drehkreuz an, schaffte es auch in die Luft zu kommen, allerdings nur 10 cm, weshalb sie kurz vor dieser Schranke wieder aufkam. Durch die Wucht und der damit verbundenen physikalischen Erklärung kam sie samt der Sperre außerhalb des Marktes wieder zum stehen.
Chantal befand sich mittlerweile auf dem Parkplatz, hinter ihr die blonde Britney, pfeilschnell, wie Usain Bolt, kam sie am Auto an, in dem Chantal gerade versuchte die Türen zu verriegeln. Mit einem deftigen Schwung riss sie die Beifahrertür auf und quetschte sich in den Smart. Durch die Eruption im Wagen zersprang die Rückscheibe und eine Scherbe schleuderte nach vorn. Schwer verletzt versuchte Chantal die Blutung zu stoppen. Von der roten Flüssigkeit angestachelt geriet Britney in einen gefährlichen Blutrausch. Immer wieder schlug sie auf Chantal ein, deren dickes Gesicht mittlerweile unkenntlich war und schon fast dem Hackfleisch im Tiefkühlregal glich. Vollends zermürbt stürzte sie aus der Auto und verendete. Britney ließ das kalt. Sie schob sich hinters Lenkrad und startete die Maschine.
Melanie konnte nur noch die Abgase erfassen als sie keuchend die Blutbesudelte Stelle erreichte. Chantal sah äußerst übel aus, aber noch übler war die ganze Situation. Verzweifelt sank Melanie zu Boden. Tränen rannen ihr aus den Monströsen Augen unter ihrer schwarzen Lockenpracht. „Er wird sie heiraten“, röchelte Chantal mit ihrem letzten Atemzug.
Britney war guter Dinge, mit 130Km/h befand sie sich nun auf dem Weg durch die Innenstadt. Sie wusste genau, welchen Stellenwert die drei Rohstoffe besaßen, die Chantal in den Kofferraum geworfen hatte. Sie wusste, dass damit ihr Traum in Erfüllung gehen würde. Ihr ewig währender Traum der Monogamie.
Melanie blinzelte. Durch die Fingerritzen hatte sie etwas Merkwürdiges gesehen. Und es stimmte tatsächlich. Als sie herankroch blickte sie auf den Beutel, der mit Gold, Myrre und Weihrauch gefüllt war. Was war da plötzlich eine Kraft in ihr. Sie zerrte sich hoch und begann zu laufen. Nach Schönwalde waren es 30 Minuten. Sie überquerte eine nach der anderen Kreuzung, fühlte sich selbst wie der kleine Muck, den sie früher immer bewundert hatte, nach Außen aber gab sie ein anderes Bild ab. Ein Schulbus fuhr vorbei und für die Horde pickeliger Pubertierender war Melanie ein gefundenes Fressen. Sogar der Busfahrer schien langsamer zu fahren, damit die Schamlosen Kinder lautstark ihre Parolen aus den angeklappten Fenstern rufen konnten. Melanie merkte davon nichts. Nie in ihrem Leben war sie so Zielorientiert gewesen. Es war fast so, als wenn über Judas Heim ein Stern schwebte, ein Stern, der seinen Namen trug und der zeigte ihr den Weg.
Nun war sie fast da. Mittlerweile waren ringsherum noch mehr Sterne um sie herum aufgetaucht, wie in Trance stolperte sie ihrer Erfüllung entgegen als im nächsten Augenblick ein Smart kurz vor ihr von einem Lastwagen erfasst wurde. Mechanisch blieb sie stehen, realisierte aber nicht mehr, dass es Britney war, die nun dort in den Flammen verbrannte, nahm die Beine wieder in die Hand und erreichte nun den Hauseingang. Judas wohnte Pattere, sie dreht den Schlüssel und war in der Wohnung. „Judas, ich hab Leckerli für dich“, rief sie herein. Keine Antwort. Sie trat in die Wohnstube, sah gleich den Stummel des linken Beines aus dem Sessel vergucken. „Judas, warum antwortest du nicht, ich bringe dir Gold, Myrre und Weihrauch.“ Sie war nun ganz im Zimmer, blickte über die Lehne und erschrak. Judas sah nicht gut aus. Zusammengesunken lag er im Sessel, die hintere Schädeldecke weggeblasen, von einer Kugel ausradiert. Die Pistole lag auf dem Boden, daneben der Laptop. Sie sah die Seite für alternative Heilpraxis, las, reflektierte und brach zusammen. Das letzte was Judas gesehen haben musste war ein Kommentar eines Nutzers: „Diese Heilmethode ist völliger Schwachsinn, wer sowas glaubt, der kauft auch Markenprodukte. Ein Raucherbein ist kein Hokuspokus. Eine arterielle Gefäßverengung ist eine ernstzunehmende Krankheit, die nur von Fachärzten behandelt und notfalls operiert werden kann. Ich gebe Ihnen allen einen Tipp: Glauben sie nicht alles was im Internet steht.“