Und die Moral von der Geschicht?

Eine junge Frau geht über den Alexanderplatz. Sie hört abwechselnd Philipp Poisels Best-of-album und Julia Engelmanns erste neuerschienene Platte. Gerade läuft „Grüner wird’s nicht“, die Debütsingle. Single ist die junge Frau jedoch nicht, noch nicht. Während sie am Saturn vorbeiläuft tippt sie eifrig auf ihr Smartphone. Es ist keine von den banalen Nachrichten, die sie sonst so produziert, sondern etwas von Relevanz. Es ist eine Schlussmach-Nachricht:

„Lieber Malte. Es lief ja leider nicht mehr so gut in letzter Zeit bei uns. Ich habe mir viele Gedanken gemacht. Habe selterner gelacht, bin nachts oft aufgewacht“. Sie verfällt ein wenig in den Sprachstil, der in ihrem Ohr klingt. „Ich habe echt versucht das Ruder nochmal rumzureißen, aber ich lieb dich nicht mehr so wie früher, es schmeckt eher wie ein gut gemachter Kaffee, den man aber mit sehr viel Wasser verdünnt hat.“

Aus Friedrichshain kommend sitzt Straßenbahnfahrerin Heike B. gemütlich in ihrer Kabine der M4. Sie ist eine von der neuen Generation Frauen, die in den Führerhäusern der BVG platzt gefunden haben und für sie ist es ein wahrer Traumjob. Sie liebt es die über 50 Tonnen vom Typ Flexity Berlin die Gleise entlang zu wuchten. Das seichte Klackern der Schienen hat sie fast etwas schläfrig gemacht, sie gähnt ausgiebig. Aber jetzt muss ich gleich hellwach sein, denkt sie. Der Alexanderplatz naht. Und der braucht die komplette Aufmerksamkeit. Sie strafft sich und biegt auf die Zielgerade ein. Der Fernsehtürmt sich vor ihr auf. Das Park Inn Hotel kommt zum Vorschein.

Die Junge Frau ist ein ganzes Stück weiter mit ihrer Finissage d’amour. Das Textfeld im blauen Messenger umfasst mittlerweile bestimmt 50 Zeilen. Es ist ein Abriss der letzten vier Jahre. Es ist eine Skizze ihrer Liebe. Eine Skizze, die sie zum verbleichen verdammt hat. Fast rempelt sie einen der Wurstverkäufer an, die überall dort herumwuseln. Nur ab und zu blickt sie hoch. Ihre Konzetration gilt ganz der Textkonzeption. Sie will es auch gut machen. Das Ende. Sie will fair sein und sich ausgiebig erklären. Weil der Malte hat das echt verdient. So wird sie das später ihren Freundinnen erklären. Sie ist gerade auf dem Weg zu ihnen. In Kreuzberg wollen sie sich treffen. In so einem Szenecafe. Heute wird sie ganz allein im Mittelpunkt stehen.

Jetzt ist sie an der Weltzeituhr. Sie bleibt stehen und liest nocheimal den gesammten Text. Ist gut – denkt sie. Erklärt was ich fühle. Ihr Daumen schwebt über dem kleinen Absendedreieck. Sie zögert noch und geht weiter. Sie muss nochmal rüber zum Rossmann. Sie hat immernoch nicht abgedrückt. Irgendwas lässt sie verharren. Irgendwas fehlt noch. Ein Satz oder ein Wort.

Plötzlich erfasst sie eine riesige Wucht von der Seite.

Heike B. hat das nicht kommen sehen. Gerade stand die Frau doch noch neben der Uhr. Wie blind und taub die Leute geworden sind, denkt sie zuerst, dann fährt ihr ein Schauer über den Rücken. Sie bremst mit voller Kraft. Es ruckelt ein wenig. Sie prallt nach hinten.
Als sie aus der Kabine auf die Straße taumelt, hat sich bereits eine Menschentraube gebildet. Heike weiß nicht was sie tun soll. Die junge Frau liegt neben den Schienen und dort wo ihre Arme waren, sind nun blutige Fleisch- und Knochenkleckse. Daneben liegt ein Haufen Plastik und Metallsplitter, ehemals ein Smartphone. Ihr wird schwummrig. Das Licht geht aus, sie ist ohnmächtig.

Zehn Jahre später findet eine Hochzeit statt. Die junge Frau mit ihren Armstumpen heiratet ihren liebsten Malte. Nichts erinnert mehr an ihr altes Leben vor dem Unfall. Tief verdrängt ist ihr Schlussmachgefühl, die Nachricht niemals abgesendet. Von der Straßenbahn ausgelöscht. Heike B. ist mittlerweile arbeitslos. Sie hat sich nie von jenen Ereignissen erholt. Sie war eigentlich Straßenbahnfahrerin geworden, damit sich soetwas nicht ereignet. Jeder wusste ja von den durchschnittlich zwei Selbstmorden, die ein Bahnführer im Laufe seines Lebens mitmachen musste. Aber Straßenbahnfahren war an und für sich ziemlich sicher. Solche Unfälle passierten nur alle paar Monate. Heike war bald nach diesem Schicksalsschlag aufs Land gezogen, sie wollte all die Höllenmaschinen nicht mehr sehen, die lauten Geräusche nicht mehr hören. Ihr Leben war verwirkt und es war verwirkt durch eine fremde Liebe.

Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert