Spitz, wie die Alte

Jerome streichelte sich über die kleine Narbe an seinem linken Zeigefinger. Er erinnerte sich genau, wie sie ihm beigefügt worden war, ein flüchtiger Schnitt mit einem Gemüsemesser. Seine Großmutter hatte nichts Böses gewollt, sie war einfach unachtsam gewesen auf ihre alten Tage. Jetzt war er auf dem Weg zu ihrer Beerdigung. Der Tod entsprach nicht der Natur, jedenfalls dann nicht, wenn man in der Sprache der Gerichtsmediziner sprach.

Frau Marianne Kelbett verlor am 02.Oktober 2017 das Bewusstsein. Durch ein lautes Geräusch aus dem Fernseher, nach dem Einsetzen des Hörgeräts, platzte eine Venole innerhalb des Gehörgangs. Das Knalltrauma hatte eine Schwindelattacke zur Folge. Die darauffolgende Ohnmacht lies Frau Kelbett an der Wand zusammenbrechen. Sie stürzte auf den scharfkantigen Brieföffner und verletzte sich dabei am Hals schwer, wobei die Halsschlagader geöffnet wurde. Wenige Minuten später war Frau Kelbett verblutet.
Er mochte den kalten Atem des Obduktionsberichts nicht. Es schien ihm, als wenn hier von irgendjemandem die Rede war, aber es war doch seine Großmutter. Er hatte sich schon oft vorgestellt was passieren würde, wenn sie allein zu Hause das Bewusstsein verlieren sollte. Seine Sinne waren auf scharfe Kanten ebenso fixiert gewesen, wie in dem Moment, als seine Tochter das Licht der Welt erblickte. Aber nun war es zu spät. Oma Marianne war gestorben. Seine Narbe juckte.
Wenn er zurückdachte, dann sah er sie. Aber das Bild war entstellt. Es entsprach nicht der wahren Vergangenheit. Immer sah er sie mit irgendeinem scharfkantigen Gegenstand. Wie sie sich beim Rasieren das halbe Bein abgeschält hatte. Wie sie dem Bäckersjungen eine Ohrfeige verpasst hatte, ohne dabei den Schlüssel aus der Hand zu legen. Wie sie bei der Wanderung damals am Holz vorbeigeschnitten hatte und ihr von da an der linke Daumen fehlte. Seine Großmutter stand irgendwie in Verbindung mit spitzen Metallen. Es gab unzählige Bilder auf denen man sie entweder mit einer Axt, einer Spitzhacke oder einem Rouladenpicker sehen konnte. Und sie lachte, als wenn es keinen Abend gäbe. Nun gab es keinen Abend mehr für sie. Nur diesen einen Noch.
Die Beerdigung war am Vormittag gewesen. Sie waren alle in die Kirche gegangen. Einige hatten gebetet, die Ungläubigen standen nur rum und warteten, dass es vorüber war. Der Pfarrer hatte eine kurze Ansprach gehalten, dann die Kinder und schließlich die Enkel. Er hatte etwas von Vorbildern gestammelt und von der Liebe und der Geborgenheit, die er nur bei ihr empfunden hatte. Über die tiefe Unverständnis, die ihn in den letzten Jahren in der Nähe seiner Großmutter begleitet hatte schwieg er. Aber die Narbe zeigte er und erzählte die Geschichte dazu. Als er wieder in die helle Welt trat konnte er sie plötzlich überall sehen. In den Zaunpfählen steckte sie, aber auch in den Haaren der Frauen. Er sah sie auch in den Scheren und Schirmen dieser Welt. In den Korkenziehern und Werkzeugkästen. Überall da war sie und mit ihr ihre Tollpatschigkeit.
Der Sarg war langsam heruntergefahren. Eine kleine Kapelle spielte Musik. Die Trauergemeinde nahm Sand und warf ihn hinunter. Er fand dies alles gewöhnlich und fast, wie er es aus dem Fernsehen kannte. Die letzten Worte, die dort noch gesagt wurden waren nicht besonders originell. Nur der Grabstein, in mattem weißen Marmor gehalten, strahlte ein Stück Individualität aus, aber vielleicht war der Spruch, den man unter die Lebensdaten gesetzt hatte auch nur aus einem der dafür geeigneten Internetforen. „Das Leben ist ein Drahtseilakt“ stand dort in schwarzen Lettern. Jerome dachte einen Moment darüber nach, dann erfasste ihn wieder der melancholische Schatten, der sich über all dem ausgebreitet hatte.
Abends saß er in der Kneipe abseits. Das Gelage war drüben im Gemeinschaftsraum. Sie betranken sich, weil sie es so gewollt hätte. Das sagten sie zumindest. Er wusste, dass es ihr egal gewesen wäre. Sie war keine Frau von übermäßiger Disziplin und Anstand. Aber emotional war sie schon gewesen, manchmal. Onkel Erwin kam herüber und wollte zur Toilette vorbeigehen. Dann sah er den jungen Mann und stoppte. „Was ist los Jerome?“. Jerome schwieg, was sollte er sagen. „Komm doch mit rüber und trink ein frisches Pils. Das bewirkt Wunder.“ Jerome stand auf und ging mit zur Bar. Onkel Erwin wuschelte ihm über den Kopf und setzte seinen Schlendrian zum Pissoir fort. Nun stand er da. Die Narbe juckte wieder und plötzlich tauchte ein Bild, wie ein Vision vor ihm auf. Er sah Großmutter Marianne, wie sollte es an diesem Tag anders sein. Sie lachte. Sie lachte und streckte beide Daumen in die Luft. Die linke Kuppe fehlte. Ein kleiner Quell Blut sprudelte heraus. Sie beachtete ihn nicht, aber er konnte seinen Blick davon nicht abwenden. Dann wendete sich die Alte zu einer Staffelei hin, die im Hintergrund auftauchte. Spitzbübisch rieb sie sich die Hände, das Blut besudelte ihre weiße Schürze. Dann schwang sie die linke Hand. Hoch – runter, links – rechts – Kurven und Kanten entstanden, das Blut zeichnete sich auf der Leinwand ab, ein grausames Bild und als sie fertig war erkannte er sich selbst. Sie hatte sein Gesicht abgezeichnet, mit ihrem Blut. Wieder hob sie den Daumen, zwinkerte und dann war sie verschwunden. Die Geräusche aus dem Hintergrund wurden wieder lauter, das Bier vor seiner Nase klarer. Er nahm einen großen Schluck und wendete sich um.

Onkel Erwin war zurück und er war guter Dinge. Er bestellte lauthals eine Runde Schnaps für die Herren und einen Pflaumenlikör für die Damen. Da war er ganz altmodisch. „Auf Marianne, die alte Schnippe“ brüllte er, „auf dass wir nun die DDR hinter uns lassen können.“ Jerome schaute sich um und sah zustimmende Gesichter. Was sollte das bedeuten? Die DDR. Sie waren doch im Westen. Er ging zu seinem Vater und fragte ihn. „Ach Jerome, eigentlich ist das nicht so wichtig. Oma Marianne ist tot. Da rührt nichts mehr. Lass es liegen.“ Er sprach zu ihm, wie ein Vater zu seinem Sohn, einem jungen Sohn, einem, der auf der Straße herumtollt und Ekelhaftigkeiten aus den Bürgersteigen aufhebt. Aber Jerome ließ nicht locker. Zerrte dem Vater am Arm und fragte noch einmal eindringlich. Der Vater drehte genervt die Augen nach oben, sodass Jerome für einen Moment nur zwei weiße Punkte anstarrten. „Also Jerome, Oma Marianne war nicht immer diese nette Frau, die du so in Erinnerung hast. Wenn du noch ein Kind wärst würde ich dir nichts sagen, aber da du erwachsen bist und es hören willst..“ Er seufzte, packte ihn am Arm und zog ihn mit in den Nebenraum. Augenblicklich war es stiller und er sah wie sein Vater eine Träne mit dem Handrücken fortwischte. Du weißt doch, dass unsere Familie eigentlich aus Brandenburg kommt. Und du weißt sicher auch noch, wie wir dort gelebt haben. Du warst zwar noch klein, aber vielleicht erinnerst du dich an den schlimmen Autounfall, den Opa Hagen hatte.“ Er drehte sich verlegen weg und sie schwiegen einen Moment. „Wir konnten euch damals nicht die Wahrheit sagen. Opa Hagen war gar nicht in diesen Autounfall verwickelt.“ Jerome spürte seinen Körper nicht mehr, er war längst in seinen Gedanken die Jahre zurückgegangen. Er erinnerte sich an den Tag, als er vom Kindergarten abgeholt worden war und seine Eltern ihm einen Kakao gemacht hatten und ihm gesagt hatten, dass sein Großvater nicht mehr zurückkehren würde. Mit großen Augen starrte er seinen Vater an. „Die Wahrheit ist etwas komplizierter. Du weißt ja, welchen Preis Verräter in der DDR zahlen mussten. Also… dein Großvater.. er hat versucht in den Westen zu kommen. Er wollte einen Tunnel graben.“ Jerome wurde schlagartig klar, dass seine Familie Teil der deutschen Geschichte war. Die Abstraktion, mit der er sonst immer diese Vergangenheit betrachtet hatte, wurde wie eine Haube davongetragen und er sah nun alles aus einer anderen, vertrauteren Perspektive.
Aber sein Vater schien mit seinen Ausführungen noch nicht fertig zu sein, denn wieder wippte er unruhig hin und her und seine Hand schien zu zittern. „Die Sache ist aber noch etwas komplexer. Man hatte meine Mutter, also Marianne schon Jahre zuvor dafür angeworben Notizen und Anmerkungen über Bekannte und Anwohner zu verfassen. Ich weiß nicht warum sie das getan hat und es ist uns allen auch erst viel später klar geworden, aber sie war ein Spitzel der Stasi.“ Ein Spitzel jagte es Jerome durch den Kopf. Ein Spitzel, eine Lauscherin und das sagt er einfach so daher? Warum hat sie das getan und warum erfuhr er erst jetzt davon? „Wir hätten euch früher schon davon erzählen sollen, aber der Zeitpunkt war nie der richtige und Marianne..“, er schluckte deutlich hörbar „war in unseren Augen genug bestraft, dass sie Opa in eines der Foltergefängnisse gebracht hatte.“ – „Foltergefängnis? Was ist mit ihm passiert?“ fuhr Jerome herein. Sein Vater blickte ihn an und sprach sachte: „Er hat sich das Leben genommen. Mit einem Drahtseil in einer Zelle in Hohenschönhausen.“

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