Jemand wie du

Wie in jeder Pause sitzt Annemarie auf dem Schulhof und raucht eine Kippe. Der Stummel wippt nervös in ihrer linken Hand. Während sie sich heiter über das letzte Wochenende unterhält, denkt sie an Ullrich. Ullrich ist ein Junge aus ihrem Spanischunterricht. Annemarie hat Ullrich gern. Sie denkt manchmal sogar daran ihn zu küssen. Natürlich nur im Traum. Sie hat nämlich von Tobias gehört, dass der Ullrich wohl gerne den Jens küssen würde. Aber sie hat auch bemerkt, dass die Erzieher da irgendwie dagegen sind. Dann hat sie ihre Eltern gefragt warum ein Junge keinen anderen Jungen küssen kann. Und Mama ist ganz rot geworden und wusste keine Antwort. Dann gab es Pizza mit Käserand.
Jemand klappt das Kinderbuch zu und schüttelt den Kopf. Ein Mädchen, das einen Jungen küssen will und raucht? Ein Junge der einen Jungen küssen will und die Eltern wissen nichtmal warum das falsch ist? Und dann dieser amerikanischer Fettmacher Käserandpizza? Das soll ein Kinderbuch sein? Wo sind wir nur gelandet? Es ist Montag. Die Person schaut auf ihre Uhr, billiges Model, aber teurer Look. Das denkt sie zumindest. „Heut Abend ist wieder Treffen am Markt“ wird die Person an die heutige Friedenskundgebung per SMS erinnert. Es geht um den Frieden, gegen die Atomwaffen der Amis und den Terror des IS, gegen Gender Mainstreaming und Flüchtlingsheime. Wo Mädchen in Kinderbüchern rauchen, wird aber kein Frieden sein. Jemand ist wieder auf die Straße getreten. Der Buchladen hat wiedermal bestätigt, was längst offensichtlich war: Die Manipulationsversuche der Oberschicht am richtigen Weltbild des Volkes. Die Person wendet sich ab und nimmt sich einen Flyer am AFD-Stand neben der Fischbude. „Die Faust des Volkes“ steht als großer Slogan in arischen Lettern.
Dann geht Jemand in einen Lotto-Toto Laden und kauft sich einen Monatsschein. Es sind die gleichen Zahlen wie immer. Einmal 30 Mark gewonnen, aber das war noch beim Tele Lotto, da war die Welt noch in Ordnung. Ausbeutung durch den Wessi, das wäre auch so ein Thema findet die Person. Müsste man mal die Stimme erheben. Irgendwas würde sich recherchieren lassen. Gute Quellen waren massenweise vom Kopp-Verlag aufbereitet worden, man musste eigentlich nur die Augen offen halten. Jetzt ein bisschen Kautabak zwischen die Backenzähne. Ahhhh. Nikotin! Heut Abend wird wieder gebrüllt. Hansa braucht meine Stimme nicht mehr. Da kann ich montags heiser werden.
Katja schließt den Tab in ihrem Browser. „Was für eine stereotypische Zeichnung eines Pegida-Anhängers“ sagt sie in den Raum. Es grummelt zurück. Lukas sitzt am Wohnzimmertisch und schaut eine Dokumentation auf Arte. Dann ringt er sich ein „Das gefährliche ist ja eher, dass die Penner aus jeder Schicht der Bevölkerung kommen. Was du da liest, ist mal wieder der auf die Spitze getriebene Unsinn der Like-Geilen Fameseiten.“ Katja schaut zu ihm rüber. „Ist doch einfacher. Die werfen uns in einen Topf und wir die. Stinken tun die doch auf jeden Fall.“ Lukas nickt nur und schaut weiter. Eine Viertelstunde wird geschwiegen. „Ich hab mir jetzt wieder 15 Meter Kommentare durchgelesen. Kann mir echt nicht erklären wie man so einen Müll verzapfen kann. Das macht mir wirklich Sorgen,“ setzt sie wieder an. Lukas schaltet den Fernseher ab und geht zu ihr an den Schreibtisch. „Die eigentliche Frage ist doch, was wir wirklich dagegen tun können. Viele wichtige Menschen haben jetzt ihre Stimme erhoben, aber dennoch ebbt die Flut an Shitstormen nicht ab. Das Problem liegt ja irgendwo in der Entwicklung dieser Menschen. Irgendwie müssen die doch so werden, dass all diese Verschwörungstheorien auf fruchtbaren Boden stoßen. Man müsste an Einzelfällen untersuchen, wie es möglich ist eine dermaßen dumme Meinung zu erlangen, beziehungsweise zu übernehmen. Das wird irgendwo in deren Kindheit liegen, in der Erziehung oder im Umfeld oder an Schicksalsschlägen und Benachteiligungen. Wir als Land müssten im Idealfall dahin kommen, dass sich niemand mehr unbewusst in die Lage versetzt sieht, solche kranken Ansichten annehmen zu müssen. Was uns zu der Grundfrage kommen lässt. Kann man es verhindern, dass es dumme Menschen gibt? Und weitergedacht. Kann man verhindern dass es a) dumme Menschen gibt, die dann b) in die falschen Kreise abrutschen oder c) von Ungerechtigkeit betroffen sind?“ Eine Pause kehrt ein, Lukas und Annemarie schauen nachdenklich zu Boden.
Dann ist das Stück zu Ende, der Saal steht geschlossen und applaudiert. Theaterkritiker Tobias Fritsch macht sich ein paar letzte Notizen zum Gesehenen. Dann fährt er ins Büro, setzt sich an seinen Schreibtisch und tippt: „Nun versucht auch das Theater Profit aus der Spaltung der Gesellschaft zu ziehen. Während dies früher schon in Person von Bertold Brecht und Heinrich Marschner in Bezug auf den Kapitalismus gelang, widmet sich das neue Stück im Theater am Ryk „Jemand wie du“ den aktuellen Kontroversen zur Flüchtlingskrise, zur Ungerechtigkeit und zum bevorstehenden Terror. In sieben ineinander verflochtenen Szenen wird der Stellungskrieg der beiden Seiten in seinen unterschiedlichen Dimensionen beleuchtet. Die problematische Stereotypisierung der Oppositionen wird dabei immer wieder in überspitzender Form zur Geltung gebracht, sodass auch dem bürgerlichen Publikum ein Spiegel vorgehalten wird. Ein Spiegel allerdings, der nicht unbedingt der sauberste ist.
Während in fast ermüdender Weise die altbekannten Argumente zur Personifizierung des Bösen gebraucht werden, ist der Inszenierung anzumerken, dass versucht wird möglichst nicht in die Debatte integriert zu werden, um eine neutrale Sichtweise beizubehalten. In der fulminanten Schlussszene werden die zwar bekannten, jedoch wichtigen Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung sich Autorin Christiane Flussfrau jedoch nicht zutraut. Die Zuschauer verlassen mit einem mulmigen Gefühl den Saal und es werden nicht wenige sein, die sich Gedanken darüber machen, ob nicht eine Willkommenskultur für ehemals Verirrte angebrachter wäre, als eine kategorische Ausschließung aus dem Kreis des Guten. Das Stück kann bis auf einen Punkt als absolut wertvoll bezeichnet werden. Es ist eine Frage, die im Stück vernachlässigt wurde: Können Menschen lernen und in Zukunft mehr Ungerechtigkeit verhindern, auch wenn sich dadurch ein Vorteil für sie persönlich verflüchtigen würde? Nun befindet man sich wieder in Mitten der Kapitalismuskritik, die aber im Angesicht der aktuellen Probleme nicht außer Acht gelassen werden kann. Gehen Sie ins Theater und schauen Sie das Stück. Machen Sie sich ihre Gedanken“.

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