Die Mensa der Humboldt

Kremp saß nach langer Zeit wieder in der Mensa der Humboldt-Universität in der Dorotheenstraße. Es musste fast zehn Jahre hergewesen sein, dass er hiergewesen war und er machte eine Reihe erstaunliche Beobachtungen, die ihm damals – als er selbst noch befangen war von dieser Welt – verborgen geblieben waren.

„Dann sitzt man unten, in den Katakomben der Mensa. Die Mampfenden Mäuler erzeugen eine laute Geräuschkulisse. Schwatzende Schwestern und brabbelnde Brüder sind hier vereint. Dazwischen ein paar Einzelgänger, einsame Wölfe wie man so sagt. Die sitzen in den Ecken und am Rand. Mehr als 200 Menschen würden hier reinpassen, also soviel Stühle stehen rum. Die Kugelförmigen Lampen verbreiten ein Licht, das sich zwischen den Sphären bewegt, genau richtig hell, aber nicht zu dunkel, dass man vor lauter Langeweile einpennt. Tageslicht fällt nur mager durch die Luken an der Längsseite herein.

Hier treffen sich alle Esskulturen. Veganer, Vegetarier und die Fleischeslüstigen, die gesunden Esser, die mit dem erhobenen Zeigefinger, die Weltverbesserer und die Unbedarften, die Nichtsscherer, die Normalos, die Lactoseintolleranten, die Glutenfreien, die Weizenhasser, die auf ihre Linie achtenden, die Alles-Rein-Typen, die, die nur wenig salzen, die Biosoldaten, die Zuckerabstinenten, die zahnlosen Matschepampeverschlinger und viele mehr. Sie essen mal langsam, flott, schlingend, würgend, kauend oder nur schluckend, pressend, alles weg. Das erzeugt Geräusche und wenn keiner reden würde, wäre es ein Konzert der Körpersounds.

Wer nicht quatscht, isst oder still vorsichhinsiecht, der starrt auf sein Smartphone, liest etwas, tippt herum, kommuniziert, extrahiert RAR-Datein, schaut auf seinem Laptop eine Serie, hört Musik oder ein Hörspiel, schert sich einen Dreck um die Welt um ihn herum. Häufiges Lachen schallt umher. Es ist ja oft die Zeit zwischen den Seminaren und Vorlesungen, wo man kurz runterkommen kann, kurz frisch machen obenrum, den Mief der Wissenschaft abstreifen, loslassen und neuen Platz machen. Dumm sein, unwesentlichen Themen besprechen, ganz Alltägliches, nichts von Weltrelevanz, die kleinen Macken der Leute. Sie erzählen dies und das, es sind Floskeln und emotionale Einblicke aus ihren ärmlichen Privatleben, Berichte von irgendwelchen Gegebenheiten, Situationen und Handlungen. Wenn man erstmal in Tritt kommt, dann beißt man sich schnell am Ohr des anderen fest. Das zeigt sich hier ganz wunderbar. Zwischendrin immer wieder kurz aufblitzende genervte Grimassen, die den wahren innerlichen Zustand verraten. “Jetzt fängt er schon wieder damit an” denkt jemand und ein anderer “das hat sie doch gestern erst erzählt”. Alltag. Inhaltlich oft ganz winzige Brötchen die hier gebacken werden. Aber es reicht ja. Die Leute wollen abladen, die Sorgen mal aussprechen und Ängste teilen, wie überall sonst auch. Die Mensa ist der perfekte Ort dafür. Durchschnittlich hält man sich da 30-60 Minuten auf, Essen aussuchen, auftun, bezahlen, Platz suchen und hinsetzen, essen und nebenbei quatschen was der volle Mund noch hergibt.

Dann geht man raus, lustig wars und traurig, man hat neues und altes gehört, wenig wichtiges, viel Unsinn und man hat den Kopf durchgepustet, ist kurz in ein anderes Leben reingeschlüpft, hat eine andere Rolle ausgefüllt. Jetzt kann es wieder losgehen, in den Seminaren und Vorlesungen, staunen und angeben, mitkommen und abschweifen, das andere Kostüm ist jetzt wieder gefragt, es geht ja auch um Karriere und Vorankommen, um das große Ganze, ums Lernen. Ernst sind dann alle und bedacht darauf was sie sagen, man will ja irgendwie gut dastehen, klug wirken, belesen, intellektuell. Irgendwie ist es ein riesiges Kompetetionrädchen in dem alle herumlaufen. Vergleich hier, Vergleich da. Namedropping und Fachsprache, Artikulation und Detailwissen. Es sind hier andere Dinge gefragt als drüben. Die Karriereleitern werden ausgerichtet, manche stellen sie ganz steil, andere wackeln, einige fallen. Es geht um was. Und die Mensa bietet Urlaub davon.“

Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert